Der Wegbegleiter

Für Jules.

Seit vier Stunden starre ich auf eine verbrannte Ruine, dessen schwarzer Ruß illustre Bilder an die verbliebenden Wände zeichnet. Dieser Ort ruft Verfall, Verletzbarkeit und Verdruss, denn was einmal ein monumentales Gebäude war, ist nun ein kümmerlicher Überrest seiner selbst.

Was mich aber an meiner fast meditativen Obsession stört, diesen Ort mit jeder seiner verschmutzten Faser in mein Gedächtnis aufzunehmen, ist ein neuer Wegbegleiter:

Ein Rabe.

Majestätisch schwarzes Federkleid und Augen, wie Kohlen der alten Trümmer, beobachtet er mich seit meiner Ankunft. Ich bin überzeugt davon, dass ihm meine dunkelblaue Plastik- Allwetterjacke nicht halb so gut gefällt wie mir seine herrschaftliche Erscheinung, ich kann das an seinem herablassend- belustigten Blick erkennen. Was ihm allerdings keine Ruhe lässt ist mein belegtes Vollkornbrot, was uns zum Einüben einer besonderen Choreographie verholfen hat:

Wie ein tanzender Federball bewegt sich der Rabe um mich herum. Oder eher um die auf dem Boden verteilten Krümel meines Frühstücks, dass ich in einem weiten Bogen um mich herum verteilt habe. Der Rabe wiegt seinen Kopf nach rechts, nach links, zweifelnd, ob man dem rothaarigen Wesen im Ernstfall davonfliegen könne, er verringert den Abstand, eine kurze Bewegung, schon flattert er auf die Birke links neben uns, um mich aus seiner einzigartigen Perspektive betrachten zu können. Demütig bewege ich mich in die Defensive, um ihm mehr Platz zu schaffen, Raben scheinen mutige, aber auch sehr vorsichtige Tiere zu sein. Selbst in den starken Zweigen des Baumes wirkt er beeindruckend groß, ich hinterfrage just mein Wissen über die Angriffslust von Raben und ihre Bereitschaft, für Nahrung aus ihren schwarzen, feingliedrigen Krallen Waffen zu machen.

Eins zu null für den Raben, nun zögere ich.

Kaum lenke ich den Blick auf mein Mobiltelefon, um bei Googel: „Können Raben Menschen angreifen?“ einzutippen, schwebt er im Sinkflug herab, vor mich, rafft in kurzer Geschwindigkeit alle Krümel zusammen und fliegt triumphierend davon.

Zwei zu null für den Raben.

„Dass es bei solchen Begegnungen tatsächlich zu Verletzungen kommt, ist eher selten“, schreibt der Ornithologe Franz Bairlein im gefundenen Fokus-Onlineartikel über meinen schwarzen Begleiter. Na wunderbar.

Seit fünf Stunden starre ich auf eine verbrannte Ruine, dessen schwarzer Ruß illustre Bilder an die verbliebenden Wände zeichnet. Dieser Ort ruft Verfall, Verletzbarkeit und Verdruss, denn was einmal ein ordentliches Frühstück war, liegt nun als Mahlzeit im Nest eines wunderbar schlauen Rabens.

Was mich aber an meiner fast meditativen Obsession stört, diesen Ort mit jeder seiner verschmutzten Faser in mein Gedächtnis aufzunehmen, ist ein neuer Wegbegleiter:

 Der Hunger. Und die Lust, mit schwarzen Schwingen davon zu fliegen.

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